Im vergangenen Jahr kamen mehr Asylsuchende über das Mittelmeer in die Europäische Union als jemals zuvor. Inzwischen hat die EU die wichtigste Fluchtroute über die Ägäis abgeriegelt – und die Zahl der Ankommenden ist drastisch zurückgegangen. Ganz im Gegenteil, zeigt ein Blick auf die andere Seite der EU-Außengrenzen. Nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Die Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks zeigen: In den Staaten rund um Europa ist die Zahl der Vertriebenen schon deutlich früher und stärker gestiegen als in Europa selbst. Und nur ein Bruchteil der Flüchtenden hat bislang den gefährlichen Weg in die EU gewählt. * Die Zahlen für 2015 sind vom 30. Juni 2015 Schon in den neunziger Jahren flohen Menschen mit Booten über das Mittelmeer in die EU. Die Union schirmt seither ihre Außengrenzen immer stärker ab. Die Abschottung bringt Europa auch in Konflikt mit den eigenen Prinzipien: In der EU gilt das Grundrecht auf Asyl – doch legale Wege, Asyl zu beantragen, gibt es praktisch nicht mehr. Für die Sicherung ihrer Grenzen verlässt sich die EU auch auf zweifelhafte Partner. Mit Militärschiffen und Flugzeugen patrouillieren Grenzschützer im Mittelmeer. Wiederholt sollen sie Flüchtlingsboote unrechtmäßig zurückgedrängt haben. Um die Patrouillen zu umgehen, wählen Schleuser immer riskantere Routen. An den Außengrenzen haben EU-Mitglieder schon in der Vergangenheit massiv aufgerüstet. Jetzt erreicht der Zaunbau sogar das Innere der EU: Österreich plant eine Grenzanlage am Brenner, dem wichtigsten Grenzübergang zu Italien. Die EU hat mit mehreren Staaten in Afrika und dem Nahen Osten Abkommen geschlossen. Darin verpflichten sich diese Drittstaaten, Asylsuchende an der Weiterreise zu hindern oder abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen – und erhalten dafür Geld von der EU. Dabei ist die Menschenrechtslage dort meist bedrückend. Das Mittelmeer ist nicht der einzige Weg, auf dem Flüchtlinge nach Europa kommen. Aber es ist ein besonders gefährlicher. Allein im Jahr 2015 starben mindestens 3.770 Menschen vor den Küsten Europas. Die kürzesten Wege nach Europa hat die EU mittlerweile versperrt. Und mit jeder Route, die die EU dicht machte, fanden die Schleuser neue Wege. Meist waren diese noch riskanter. Nun ist auch der Weg über die Ägäis abgeriegelt. Und wieder müssen die Flüchtlinge auf gefährlichere Routen ausweichen. Von Libyen, Tunesien oder Ägypten an die Küsten Italiens: Über diese Route kamen bis 2014 die meisten Asylsuchenden. Nun könnte sich die Flucht wieder hierher verlagern, meint die EU-Grenzbehörde Frontex. Seit Anfang 2016 steigt die Zahl der Ankommenden in Italien. Vor allem Menschen aus afrikanischen Staaten wie Gambia und Eritrea haben die Route zuletzt genutzt. Flüchtlinge aus Nahost kommen weniger – auch weil Syrer inzwischen nicht mehr ohne Visum nach Libyen einreisen können. Besonders gefährlich ist die Route ab Libyen. Es herrscht Bürgerkrieg, auch der "Islamische Staat" ist hier aktiv. Flüchtende werden Opfer von Zwangsarbeit und gezielter Gewalt. Für die Überfahrt nach Europa setzen Schleuser auf seeuntaugliche Boote: Sie kalkulieren ein, dass europäische Patrouillen die Schutzsuchenden aufgreifen – und die kleinen Schiffe zerstören. Gestrandet: Mehr als 57.000 Menschen harren weiter entlang der Balkanroute aus, die meisten von ihnen in Griechenland. Seit Mazedonien seine Grenzen abgeriegelt hat , haben bereits mehr als 8.000 Menschen den Weg von Griechenland über Bulgarien genutzt. Macht auch Bulgarien seine Grenzen dicht, bleibt nur die schwierige Reise durch das Gebirge nach Albanien und von dort über das Meer nach Italien. Der Weg hat Geschichte: Nach dem Fall des kommunistischen Regimes flohen 1991 Zehntausende Albaner auf Schiffen nach Westeuropa. Sonst werden über die Meerenge vor allem Drogen geschmuggelt. Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge leben inzwischen in der Türkei, die meisten von ihnen in großer Armut und ohne Arbeitsmöglichkeit. Der Seeweg nach Griechenland ist ihnen nun versperrt. Ausweichen könnten sie über den Landweg nach Bulgarien, über das Schwarze Meer nach Rumänien oder auf den Seeweg nach Italien. Vor allem die Grenzen zu Bulgarien und Rumänien gelten allerdings als streng bewacht. Der Seeweg nach Italien ist lang und teuer, gelangte jüngst aber schon zu zweifelhaftem Ruhm: Ab Ende 2014 brachten Schleuser mehrfach Hunderte Flüchtlinge auf Containerschiffe, die sie anschließend per Autopilot ohne Besatzung bis in italienische Gewässer fahren ließen. Die türkische Polizei ging hart gegen die Geisterschiffe vor – und trug so zur Verlagerung der Fluchtrouten in die Ägäis bei. "Wir wissen aus der Geschichte: Solange es Krisen und Kriege gibt und Europa ein besseres Leben verspricht, werden Menschen versuchen, hierher zu gelangen." – Fabrice Leggeri, Chef von Frontex "Wenn ihr die Zäune bis zum Himmel baut: Wir werden sie überwinden." – Alfa aus Mauretanien, Flüchtling am Zaun von Calais Quellen : Frontex , UNHCR , Eurostat , IOM , Amnesty International , Bundesministerium des Inneren , Pro Asyl , Sea Watch , eigene Recherchen und Berechnungen